DIE ZEITSCHRIFT
FÜR ORGONOMIE

Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Lebens.
Sie sollten es auch beherrschen.

WILHELM REICH

 



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David Holbrook
Charles Konia
Paul Mathews
Vittorio Nicola

EIN FALL VON MYSTIZISMUS

Arthur Nelson, M.D.

The Journal of Orgonomy vol. 8/2, 1974
The American College of Orgonomy

 

Der Mystizismus, wie er von Reich (1) beschrieben wurde, bedeutet die "jenseitige und unwirkliche Veränderung der Sinneseindrücke und der Organempfindungen". Das geschieht durch Verzerrung dieser Eindrücke und Empfindungen aufgrund der Panzerung, die wie eine "trennende Mauer zwischen Erregung und Empfindung" funktioniert. Die Empfindungen kehren zurück "in der pathologischen Wahrnehmung 'übernatürlicher Kräfte'", die im wesentlichen Projektionen sind und Kräften außerhalb des Körpers zugeschrieben werden. "Der Mystiker bleibt im Absoluten stecken. Das Absolute ist unfaßbar." Eine frustrierende Sackgasse.

Später (2) vertiefte sich Reichs Analyse: "Die Funktion, die beim natürlich funktionierenden Organismus durch den Orgasmus in der sexuellen Überlagerung erfüllt wird, erscheint beim gepanzerten Organismus in Form des Nirwanaprinzips oder der mystischen Idee der Erlösung wieder. Der religiöse, gepanzerte Organismus spricht es direkt aus; er möchte 'seine Seele vom Fleisch befreien'. Die 'Seele' repräsentiert die orgonotische Erregung, das 'Fleisch' das umgrenzende Gewebe." Deshalb kann man mit Sicherheit folgern, daß viele mystische Bestrebungen von der Orgasmussehnsucht bestimmt werden.

Im ungepanzerten Leben, wie bei manchen indigenen Völkern, herrscht statt des Mystizismus der Animismus vor. Dieser Animismus richtet sich nach den objektiven Sinneserfahrungen des Individuums statt der Verzerrung des Empfindens (wie beim Mystizismus). Diese Wahrnehmungen, die einen objektiven Hintergrund haben, werden dann projiziert und äußeren Kräften zugeschrieben. Dank Reich wissen wir jetzt, daß diese Organempfindungen nichts anderes sind, als die Wahrnehmung der Bewegung der Orgonenergie im Körper. Der Animist projiziert sie auf naive Weise, bleibt aber in der Wirklichkeit verankert, während der Mystiker sie projiziert, weil er sie nicht ertragen kann.

Der folgende Fall illustriert, wie weit jemand gehen kann bei der Verwendung des Mystizismus als neurotische Abwehr.

Die Patientin, Frau O., ist eine 38jährige Hausfrau, mit College-Ausbildung. Sie kam mit 36 in Therapie, nachdem sie sich einer Jungianischen Analyse unterzogen hatte, in der Gefühle geweckt wurden, mit denen sie nicht umgehen konnte (vor allem Zorn) und der Analytiker ihr keine angemessenen Antworten anbot. Weitere Gründe für ihre Konsultation waren ihr unbefriedigendes Sexualleben (sie hatte fast nie einen Höhepunkt), Depression und zahlreiche körperliche Beschwerden, bei denen die orthodoxe Medizin ihr nicht hatte helfen können. Seit vielen Jahren litt sie unter Migränekopfschmerzen. Den ersten Migräneanfall hatte sie mit 16 gehabt. Es fing mit Hemiopsie (Halbseitenblindheit) an, gefolgt von Kopfschmerzen. Ihre Augen wurden untersucht und eine Brille verschrieben. Sie erinnert sich nicht an weitere Anfälle bis zu ihrem 27. Lebensjahr, als sie anfingen, unregelmäßig aufzutreten. Es gab eine deutliche Verbindung mit Streß und, auf einer tieferen Ebene und weniger offensichtlich, mit unterdrückter Wut. Ein Heilpraktiker, den sie konsultierte, sagte ihr, daß sie an Vitamin A-, Vitamin C- und Calcium-Mangel leide. Sie glich diesen Mangel aus, aber die Kopfschmerzen, die einen Tag oder zwei Tage andauerten, kehrten zurück. Darauf wandte sie sich an einen Arzt, der ihr ein Ergotamin-Präparat verschrieb, das einen beginnenden Kopfschmerz aufhalten konnte, wenn sie es rechtzeitig nahm.

Auch litt die Patientin unter chronischem Halsentzündungen, begleitet von geschwollenen "Drüsen" (Lymphknoten im Hals), des weiteren schwere Schmerzen im Schultergürtel, was ihre Bewegungsmöglichkeiten einschränkte und beträchtliche Unannehmlichkeiten mit sich brachte, außerdem litt sie unter chronischer Verstopfung und, seit neuerem, unter Colica mucosa (Dickdarmentzündung) in belastenden Situationen. Bei Beginn der Therapie war sie gerade von einer Reise nach Europa zurückgekehrt, wo sie sich einer Akupunkturbehandlung wegen der Schmerzen in der Schulter unterzogen hatte, jedoch kehrte der Schmerz nach anfänglicher Besserung zurück.

Frau O. stammt aus einer Mittelklassefamilie des Südens. Sie ist die Zweitgeborene, hat eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. Die vier Kinder waren jeweils drei Jahre auseinander. Der Vater war ein gestrenger Patriarch und ein Perfektionist, der keine Gefühlsäußerungen duldete. Die Patientin erinnert sich: "Er schimpfte mit uns, wenn wir laut wurden und wir gehorchten. Oder wenn wir weinten, wurde er sehr wütend und sagte so etwas wie: 'Jetzt reicht's Fräulein!' Als ich klein war, nahmen sie mich zu einer Party mit und verbrachten mich dort in ein Schlafzimmer im Obergeschoß. Ich schrie, weil es mir wohl unheimlich war und ich in ihrer Nähe sein wollte. Nichts konnte mich beruhigen und ich weinte so heftig, daß mein Vater mich mit ins Badezimmer nahm und mich dort mit einem feuchten Handtuch so lange ins Gesicht schlug, bis ich still war. Als ich dann wieder anfing, tat er es nochmals." Er war sehr kopforientiert und erwartete von seinen Kindern in allem, was sie anfingen, hervorzustechen. Wie sich herausstellte, war nichts, was die Patientin unternahm, jemals gut genug. Dies verstärkte ein Gefühl von Minderwertigkeit und Ungenügen, das sie ihr das ganze Leben verfolgte.

Sie schreibt: "Ich erinnere mich, mich ungeliebt, abgelehnt und dumm zu fühlen, weil nichts, was ich tat, richtig war und ich fühlte die Ablehnung … Es wurden nur perfektes Benehmen und perfekte Leistungen akzeptiert. Ich erinnere mich des Gefühls, ihm [ihrem Vater] nichts recht machen zu können. Ich war nicht gut genug. Ich hielt seine Vorgaben nicht ein. Ich hatte ihn enttäuscht."

"Augenscheinlich war meine Mutter immer böse mit mir und wollte mich nicht um sich haben. Sie wollte nicht, daß ich ihren Tageablauf störe und ihr Unannehmlichkeiten bereite."

"Ich fühlte mich ungewollt und ungeliebt und begann, Angst vor dem Alleinsein zu haben. Als ich noch keine fünf war, ließ sie mich allein zum Schlafen zurück, um meinen Vater aus der nächsten Stadt abzuholen. Ich wachte allein auf und geriet in Panik, da ich dachte, daß sie nicht mehr zurückkehren würde. Meine große Schwester war in der Schule."

Die Patientin erinnert sich an sexuelle Spiele mit anderen Kindern, als sie sechs war. Mit zehn gab es weitere sexuelle Spiele. Sie fühlte sich schuldig, als sie entdeckt wurde. Es gibt keine Erinnerungen an Masturbation. Als Frau O. als 13jährige anfing, mit Jungen auszugehen und es zu "Petting" kam, wurden manchmal intensive körperliche Empfindungen in ihr geweckt, doch wegen Angst und Schuldgefühlen wehrte sie Geschlechtsverkehr ab. Als sie schließlich mit dem Mann, den sie heiraten sollte, Geschlechtsverkehr hatte, war es eine Enttäuschung für sie. Selten erreichte sie den Höhepunkt. Sie willigte in den Geschlechtsverkehr ihrem Ehemann zuliebe ein und um Zuwendung von ihm zu erhalten. Irgendwie erhielt sie nie genug Zuwendung und sie kann noch immer nicht verstehen, warum Männer "nicht stundenlang am Umarmen und Küssen genüge finden, ohne daß es gleich zum Sex kommen muß". Frau O. heiratete mit 21 nach dem College und hat zwei Kinder.

Bald nach der Heirat begann ihre Odyssee durch die Meere der Mystik. Das folgende ist eine grobe chronologische Liste ihrer Unternehmungen auf diesem Gebiet: Hypnose (Rückführung), Spiritismus ("Ich hatte Interesse an Kontakt mit den Geistern Verstorbener und an geistigen Erfahrungen."), Hellseherei (am Leben von Edgar Cayce orientiert), verschiedene traditionelle Religionen ("Ich suchte eine Kirchengemeinde oder eine Religion, die in Harmonie mit meinen wissenschaftlichen Kenntnissen steht, und die trotzdem die Musik und die Rituale bietet, die meine inneren Gefühle ansprechen."), Buddhismus, Zen, Sumeria [ein Pseudonym] (eine Schule des Okkultismus, die eine Art von okkulter Psychologie lehrt), Numerologie, Tarockkarten, Kabbala (symbolische Sprache), übersinnliche Kräfte, esoterische Astrologie, magische Arbeit (Entwicklung von Geisteskräften), schöpferische Visualisierung, Meditation, Wahrsagen (Prophezeiungen), Sexualmagie und Yoga.

Frau O. fügt hinzu: "Ich interessierte mich des weiteren für Handlesen, Reinkarnationsforschung und Weiße Magie. Bald nahm ich einen Guru oder geistigen Lehrer, dem ich zur Sklavin wurde. Über eineinhalb Jahre hinweg ging ich oft durch fünfstündige rituelle Meditationen. Darauf folgten Theosophie, Taoismus, Hinduismus, die Rosenkreuzer, Scientology, Parapsychologie und Anthroposophie. Dann interessierte ich mich für psychedelische Erfahrungen, brachte aber nie den Mut auf, Drogen zu nehmen. Ich schloß mich dem Thrakischen Orden an [ein weiteres Pseudonym] [Hervorhebung der geistigen Geschichte der Menschheit auf Erden und den aktuellen Stand der geistigen Entwicklung, schöpferische Geisteskräfte und spirituelle Höherentwicklung]. Ich wurde "Katholikin", weil mir in der Kirche die Rituale, die Gesänge und die Gefühle zusagten. Alpha-Wellen-Forschung, Psychokinese, Kirlian-Photographie, parapsychologische Entdeckungen, etc. faszinieren mich. Ich führe meine metaphysischen und philosophischen Studien fort, diesmal konzentriere ich mich jedoch auf die Psychologie und die psychologischen Aspekte dieser Lehren. Ich wandte mich dann Jung zu."

Sie begann sich für Psychotherapie aufgrund eines traumatischen Ereignisses zu interessieren, einer schweren Enttäuschung an ihrem Guru, als sie entdeckte, daß er ein Betrüger ist. Das verursachte ihr großen Schmerz und rief Angst hervor, was sie teilweise durch eine Verschlimmerung ihrer Migräne und eine akute Dickdarmentzündung somatisierte. Ein Internist empfahl ihr die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch zu nehmen.

Die biophysische Untersuchung zeigte eine schlanke, gut entwickelte, hübsche Frau durchschnittlicher Größe mit einem ziemlich offenen leicht angespannten aber ausdrucksvollen Gesicht. Sie hatte eine etwas kokette, sinnliche Ausstrahlung. Die Gefühle waren schwankend und leicht hervorzurufen. Es gab nur wenig Panzerung, abgesehen von einer mittelschweren bis schweren Blockierung im Hals und einige Beckenpanzerung. Manchmal neigten ihre Augen dazu "wegzugehen". Es wurde Hysterie mit oraler Blockierung diagnostiziert.

Die Therapie fing mit tiefer Atmung an. Die Aufmerksamkeit war auf die ersten drei Segmente gerichtet, mit Rollen der Augen und Lautäußerungen (Seufzen). Der Brustkorb war ziemlich frei, aber die Blockierung im Hals war offensichtlich, denn sie kam häufig "ins Stocken" und hatte eine heisere Stimme. Frau O. mußte sich häufig räuspern und wenn sie schrie, kam es zu Erstickungsanfällen und Husten. Der Wut wurde der Weg gebahnt, indem sie veranlaßt wurde, zu schreien und dabei auf die Couch zu schlagen. Das brachte eine Menge verborgene Angst und dann Qual zum Vorschein. "Warum liebt ihr mich nicht?" lautete der mitleiderregende Protest gegen ihre Eltern. Sie durchlebte diese Gefühle aus ihrer Kindheit immer wieder. Bei diesen Gelegenheiten verschlimmerte sich der Schmerz in den Schultern. Merkwürdigerweise verursachte keine ertastbare Panzerung diese Schmerzen - vielleicht lag sie tief und konnte deshalb nicht ertastet werden. Diese Sitzungen wurden von vielen Klagen über den Mangel an Zuwendung in ihrem gegenwärtigen Leben durchzogen. Frau O. war manchmal niedergeschlagen, da sie das Gefühl hatte, den allgemein an sie gestellten Erwartungen nicht gewachsen zu sein, gefolgt von Weinen und Selbstmitleid. Darunter verbarg sich eine Menge kaum verhüllter Wut, die ich mobilisierte, indem ich die Patientin auf ein Handtuch beißen und sie am Bettuch zerren ließ. Sie geriet in Rage und ließ ihre ganze Wut gegen die Eltern raus. Das wurde oft wiederholt. Häufig verließ Frau O. diese Sitzungen zitternd und angeschlagen und mußte beruhigt werden.

Bis zu diesem Augenblick hatte die Therapie vierzig Sitzungen. Frau O. war noch immer sehr mit ihren mystischen Bestrebungen beschäftigt. Vom dynamischen Gesichtspunkt her wurde deutlich, daß einer der unbewußten Gründe für ihren Mystizismus offensichtlich die Suche nach dem Absoluten war, d.h. in den Augen ihrer Eltern perfekt zu sein. Zu diesem Zeitpunkt fragte sie mich nach speziellen Vorfällen während ihrer Kindheit, die mit vielen spezifischen Empfindungen, die in der Therapie auftauchten, in Zusammenhang stehen könnten. Sie überlegte, wieso die dazu gehörigen Erinnerungen nicht auftauchten. Des weiteren wurde sie wegen der Dauer der Therapie ungeduldig, da sie nach wie vor sexuell frustriert war.

In der Hoffnung, die Therapie voranzubringen, eröffnete mir Frau O. zu diesem Zeitpunkt, einen Therapeuten gefunden zu haben, der sehr gezielt frühe Erinnerungen zum Vorschein bringen und, im Zusammenhang mit ihrer gegenwärtigen Therapie, den Prozeß voranbringen könnte. Die Therapie entstammte der Scientology. Sie konzentrierte sich auf die aktuellen Symptome des Patienten und beschwor, parallel zum Erleben des Symptoms (z.B. einer Depression), Erinnerungen an die Vergangenheit herauf.

Ich erwiderte, daß es nicht notwendig sei, spezifische Erinnerungen zurückzuholen, weil sie normalerweise nur dann auftauchen, wenn sie von besonderer Bedeutung sind und der Wunsch, gleichzeitig beide Therapien haben zu wollen, eine Flucht aus ihrer gegenwärtigen Behandlung wäre. Es brachte nichts, denn Frau O. beendete die Therapie.

Weil sie das Gefühl hatte, gehen zu müssen, zog ich zu dieser Zeit die Möglichkeit einer verborgenen negativen Übertragung in Betracht. Bis dahin hatte Frau O.s Übertragungsreaktion zwei Elemente: einerseits war da eine starke positive Übertragung und sie fühlte sich zu mir hingezogen, aber ich war auch jemand, der Forderungen an sie stellte, genau wie ihr Vater. Ich erwartete zu viel. Sie konnte diese Erwartungen nicht erfüllen und sie weinte deswegen. Im Nachhinein scheint es so, als hätte ich nicht in einem ausreichenden Maße den Ausdruck von Wut mobilisiert und daß die Ursache ihres Fortgehens in dieser latenten negativen Übertragung lag - zusätzlich zur hysterischen Dynamik des "Weglaufens".

Drei Monate später erhielt ich einen aufgewühlten und tränenreichen Anruf von Frau O. Die neue Therapie hätte ihr sehr wenig gebracht und sie wolle zurückkommen. Tatsächlich hatte sie Erinnerungen aus der Vergangenheit hervorgeholt, was wiederum Empfindungen an die Oberfläche gebracht habe, die sie jedoch in der Therapie nicht hätte ausdrücken können. Ihre körperlichen Symptome - die Kopfschmerzen, die Schmerzen in der Schulter und das Halsweh - wären sogar noch intensiver geworden.

Mit der Wiederaufnahme der Therapie wirkte Frau O. engagierter und aufrichtiger als je zuvor. Die alten Themen der Therapie kehrten zurück: Gefühle des nicht geliebt und schlecht behandelt Werdens, gefolgt von starken Wutausbrüchen, während der sie schrie, stammelte, um sich schlug, in ein Handtuch biß und ihre Unterdrücker erwürgte. Oft gab es Gefühle des Ungenügens. Sie weinte und war verzweifelt. Ich konzentrierte mich auf die negative Übertragung und wies sie darauf hin, daß sie zu schnell aufgab und daß sie zu besserem fähig sei. Ich sagte dies mit einem Hauch von Sarkasmus, was sie wütend machte. Ich sei wie ihr Vater, aber sie interessiere sich nicht für seine Einstellung und kümmere sich nicht mehr darum, was er denke oder wolle. "Ach nein?" reizte ich sie. Sie schrie und tobte und weinte dann still vor sich hin. Von Zeit zu Zeit unterstrich ich meine Provokationen, indem ich ihre Zwischenrippenmuskeln traktierte, was ihre Wut sogar noch weiter anstachelte. "Ihr Männer seid alle gleich", war eine häufige Abwertung. "Wir sind alle gefährliche Bestien", gab ich zurück, was die Frage implizierte, was sie dagegen zu unternehmen gedenke. Das entfesselte noch mehr Wut, gefolgt von Weinen.

Nach zehn derartigen Sitzungen begannen die Schmerzen im Schultergürtel nachzulassen, um dann fast ganz zu verschwinden. Sie hatte nun selten Kopfschmerzen und klagte nicht mehr über chronisches Halsweh. Ich stellte fest, daß die Blockierung im Hals mit jeder Sitzung nachließ, bis auch sie fast verschwunden war. Ich sagte ihr, sie solle zu Hause täglich den Würgereflex hervorrufen. Als sich der Hals öffnete, verspürte Frau O. neue Empfindungen.

Während der folgenden zehn Sitzungen hatte sie bei jedem tiefen Ausatmen Strömungsempfindungen. Frau O. wurde nun der Zusammenhang zwischen ihrer zurückgehaltenen Wut und vieler ihrer körperlichen Beschwerden bewußt. In vorangegangen Sitzungen hatte sie in der Schulter Schmerzen verspürt. Nun verschwand der Schmerz, wenn sie wütend wurde und diese Wut zum Ausdruck bringen konnte, insbesondere durch Schlagen auf die Matratze. Viel wütendes Schreien hatte geholfen, die Halsblockierung aufzulösen.

Auch hat sich ihre Haltung hinsichtlich mystischer Bestrebungen stark gewandelt. Spontan wechselte ihr Interesse von den abwegigen und übernatürlichen Aspekten der Mystik hin zur Beschäftigung mit den moralischen und ethischen Werten des praktischen Lebens. Sie führt ihre Beschäftigung mit dem ersteren darauf zurück, der "schmerzenden Realität" zu entgehen. Ihr wird nun bewußt, daß es eine Verbindung gibt zwischen vielem, was sie studiert hat, und den konkreten Sensationen und Strömungsempfindungen in ihrem Körper und sie will nun einige dieser Bereiche als bioenergetische Phänomene erforschen. Es bleibt jedoch ein gewisser mystischer Unterton in ihren Unternehmungen bestehen. Die "spirituelle" Entwicklung steht immer noch im Vordergrund, obwohl nun mehr in philosophischer Hinsicht.

Auf dem Weg zur Gesundheit gibt es noch viel Arbeit zu tun, da die Beckenpanzerung beseitigt werden muß. Man kann voraussagen, daß dann die körperlichen Symptome Verstopfung und Dickdarmentzündung verschwinden werden. Des weiteren ist davon auszugehen, daß, wenn die volle Gesundheit (orgastische Potenz) erreicht sein wird, auch alle restlichen Spuren ihrer mystischen Einstellung sich auflösen werden. Reich zufolge ist "orgastische Potenz bei Mystikern und Mystizismus bei orgastisch potenten nicht anzutreffen" (1).

Der Fall einer Patientin mit einer unglaublichen Reihe mystischer Bestrebungen wurde präsentiert. Man könnte spekulieren, daß eine verhältnismäßig leichte Panzerung noch eine gewisse Wahrnehmung des Energieflusses erlaubte, gegen die sie sich mit hysterischen Fluchten verteidigte. Das letztere, im Zusammenhang mit dem neurotischen Bedürfnis nach "absoluter" Perfektion (das väterliche Ideal), trieb sie in den Mystizismus. Aber angesichts der Natur der Panzerung hätte der Perfektionismus auch zu einer mechanistischen Weltanschauung führen können. Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Änderungen sich ergeben werden, wenn sich die Patientin der Gesundheit weiter nähert.

 




Literatur

  1. Reich, W.: Äther, Gott und Teufel
  2. Reich, W.: Die kosmische Überlagerung